Es ist ein hagerer Körper in seiner nakten Existenz der den Aufstand des Fleisches fordert, um neu erfunden zu werden. Ein Körper getanzt am Ursprung, jenseits der täglichen Konventionen. Spannung, Beben, Gärung. Imre Thormann, einer der bedeutendsten Butoh-Meister der Welt, ist ganz Strenge, Mühe und Freude an einer andauernden Freiheit. Genau “Enduring freedom” heisst die letzte Kreation des berner Tänzers, Jahrgang 1966; nach einer Karriere ohne Erfolg in einer Punk-Band hat er Kampfsportarten wie Aikido, Kung Fu, Tai-Chi und Taekwondo erlernt und war in Japan Schüler des Gründers des Butoh, Kazuo Ohno und von Michizou Noguchi.
Das "Woanders" einer fortdauernden Bewegung hat uns soweit erschüttert, dass wir uns wie eins fühlten mit dem, das eine Spanne weit vor unseren Augen vorging. Vergessen waren die Sirenen der Krankenwagen und das Geschrei der Kinder im Garten der Villa Rossi Martini in Genua, Sitz des Ereignisses, einer nationalen Erstaufführung im Rahmen des VII Festivals “Zeugnis, Forschung und Aktionen”, unterstützt vom Theater Akropolis.
Ein Rechteck von Neonröhren, auf einem Marmorboden mit weiss-blauem Schachbrettmuster ist der Ort den Imre Thormann auf ganz normale Art betritt. Er ist ganz gewöhnlich angezogen, so wie er auch nach der Darstellung und beim Nachtessen sein wird: dunkelblauer Nadelstreifenanzug, eng gerippt, ganz nah an uns Zuschauer, die wir auf den vier Seiten sitzen. Schwarze Schnürstiefel, weisses Hemd, schwarzer Hut mit breiter Krempe. Er sieht einem Killer, einem Mörder oder einem Spion ähnlich, nicht von der Kälte kommend, wie der Hauptdarsteller im Roman von Le Carré, aber aus dem Morgenland. Er setzt sich in eine Ecke auf einen Stuhl – genau wie die unseren – und nach einem tiefen Atemzug zieht er sich ruhig und feierlich aus. Nachdem er sich erhoben hat, löst sich Thormann in einer Totalität des Tanzes, welche Worte nur beschreiben können, wenn sie sich in Organe, Knochen und Muskeln, von einer tiefgreifenden vererbten fast goettlichen Kraft, verwandelt haben, nicht um eine Realität darzustellen, sondern um eine neue Realität zu schaffen. Der Mensch, auf ein Nichts zurückgeführt, ist zu allem fähig.
Enduring Freedom ist eine Reise der inneren und äusseren Befreiung. Butoh fordert uns heraus, die eigene authentische Art zu äussern und beruht auf einem tiefen Verhältnis zwischen Körper und Natur, weit davon entfernt, sich in einer Technik zu formalisieren.
Gekrümmt, hager, gespannt, magere Beine, flacher Bauch, kahler Schädel entdeckt sich Imre Thormann als erster Mensch auf Erden, in fortdauernder Verwandlung, Adam, der aus dem Garten Eden kommt, sich vorwärts bewegt, umarmt und lacht, wirbelt und sich windet in allem was da ist. Es gelingt ihm, sich ganz klein und sehr gross zu machen, es scheint, es nehme kein Ende. Er wirft sich schlagartig auf die Erde, er schleppt sich, an seinen Knien verankert, er bricht zusammen. Er bewegt sich nicht nur äusserlich, sondern auch und vor allem aus dem Innern heraus. Der Schweiss fliesst vom Kopf auf die Wangen, dem Hals entlang, es sind die Tränen der Anstrengung und der absoluten Kontrolle der Geste. Die Schläge auf den Boden werden zur einzigen Musik im Raum. Die Schläge und sein Atem.
Die Hände erhoben und den Mund verzerrt wie eine japanische Maske, dann die Füsse nach oben, dann fährt er fort sich zu wälzen, zu springen, sich auf den Boden zu werfen, der nicht reagiert, (er kann es nicht) aber auch der Körper zerbricht nicht. Es ist ein sich festhalten, beim abstürzen, ein sich festklammern beim abrutschen, ein dynamischer Gebrauch der Leere. Wir sind verwirrt, betäubt, vernichtet. Ein Junge weint unaufhaltsame Tränen und trotzdem können wir nicht anders als schauen: weil uns dieser Abgrund in welchen Imre Thormann hinabgestiegen ist, etwas angeht, der Abgrund der vom Licht des Egoismus angezogen Nachtfalter, der kein Mitleid kennt. Abgrund für die Menschen auf dem Marmortisch des Doktors Mengele, der oekeonomisch ausgebeuteten Menschen, oder der Menschen unter den Trümmern der mit Bomben exportierten Demokratie anlässlich der "Unternehmung Enduring Freedom”, nach dem 11. September 2001 gegen die Taliban in Afghanistan (die Homonymie mit dem Titel der Darbietung ist kein Zufall).
Der Kopf des Tänzers, rot von den erhaltenen Schlägen, ist jetzt von Schweiss überströmt. Er wälzt sich gegen seinen Stuhl in der Ecke und verbleibt dort in fötaler Position. Wenn er sich wieder aufrichtet, um sich anzuziehen, überkommt uns ein Beben von erwachtem Leben, wir beginnen aufs Neue zu atmen, wie eine einzige grosse Lunge, die bis zu diesem Moment den Atem angehalten hat. Tormann lebt noch, oder besser: er lebt wieder. Also können auch wir überleben, auch wir haben die Kraft zu widerstehen und neu geboren zu werden.
Das was uns vorher unmöglich erschien, ist eben vor unseren Augen geschehen. Der Beifall, reichlich, anteilnehmend und dankbar, bedeutet, dass wir verstanden haben und nicht vergessen werden. Die Veränderung ist in unserem Körper aufgezeichnet. Ein Arm, ein Bein können genügen, um alles auszudrücken und zu tun.
Original in Italian