Urknall in der Badewanne
Vor einem Jahr wurde ich mit dem Stück „Enduring Freedom“ an ein Festival in Frankreich eingeladen. Es waren tolle Bedingungen mit guter Gage und Unterbringung im Hotel. Normalerweise bin ich es anders gewöhnt. Gut gelaunt mache ich mich mit meinen Neonröhren auf den Weg. Das Kostüm, in diesem Fall ein schwarzer Anzug mit Hut, umhüllt bereits meinen Körper. Ich reise nicht gerne mit viel Gepäck und spiele öfters mit der Auflösung von Grenzen. Meine Vorstellung fängt also bereits mit der Reise an.
Die vierstündige Zugfahrt verbringe ich stehend. Eine Angewohnheit, die ich mir in Tokyo zu eigen machte. Ich stelle mich meistens möglichst unauffällig mit dem Gesicht gegen die Türe, so als würde ich interessiert aus dem Fenster schauen. Ohne mich mit den Händen festzuhalten, das Gewackel des Zuges mit kleinen Gegenbewegungen ausgleichend, wehre ich mich gegen den Verlust des Gleichgewichts. Dabei kommt es in erster Linie auf eine gute Beinarbeit an. Aber auch der Oberkörper sollte sehr flexibel und durchlässig sein. Für den Preis des Zugtickets kriege ich also zusätzlich eine Ganzkörpermassage und trainiere nebenbei Gleichgewichtssinn und Feinkoordination.
Angekommen im Hotel stelle ich erfreut fest, dass ich nicht nur eine eigene Dusche, sondern sogar ein Bad habe. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal in diesen Genuss gekommen bin, aber es dürfte gut ein, zwei Jahre her sein. Ich freue mich also wie ein Kind, nach der Vorstellung ins heisse Wasser einzutauchen.
Erschöpft nach der Premiere mache ich mich daran mein Bad vorzubereiten. Das eine Schamhaar meines Vorgängers oder meiner Vorgängerin spüle ich noch schnell und grosszügig den Abfluss runter. Ich muss mich hinknieen um den Stöpsel an seinen vorgesehenen Platz zu stecken. In diesem Moment, mein Kopf verschwindet halbwegs in der Wanne, sehe ich in ihrem unteren Drittel, dort wo sich die vier Wände in einer eleganten Wölbung mit dem Boden treffen, seltsame farbliche Abstufungen. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich besagte Stelle als zebragemusterte Mondlandschaft. Normalerweise, und auch weil ich es anders gewohnt bin, kümmern mich solche Details nicht. Diesmal ist es anders. Ist es meine Erschöpfung oder die Überheblichkeit, die mir wegen dem üppig ausgestatteten Hotel, das sich mit diesem Bad dem bourgeoisen Traum seiner Kundschaft beugt, in den Kopf schoss? Mein Badetraum zerplatzt jäh. Mein alter ego steigt auf die Barrikaden und weigert sich vehement, seine Knochen in diesem Dreck zu suhlen. Diesmal wirst du nicht klein beigeben, wirst du dich an der Rezeption beschweren, wirst du dein Recht auf eine saubere Wanne einfordern, faucht es aus einer Ecke meines Schädels. Nach einem Auftritt bin ich so mancherlei Gemütsverfassungen gewöhnt, aber jetzt bin ich selber erstaunt über meiner Reaktion. Etwas unbeholfen greife ich nach dem nächsten Handtuch, schmiere Seife darauf und mache mich an die besagte Stelle. Es hilft nichts. Dafür begreife ich, wie diese Mondlandschaft zustande gekommen ist. Immer wieder habe ich mich in meiner Laufbahn als Putzkraft verdingt. Ich bin also sozusagen vom Fach. Ich sehe es genau vor mir. Schnell mal im oberen Drittel des Bades eine horizontale Linie Putzmittel anschmieren, das Ganze nach unten laufen lassen, wobei sich das aggressive Mittel in den Dreck frisst, und dann einfach mit der Dusche kurz drauf halten. Nichts von bücken, geschweige den die Wände abreiben. Meine Wut auf diese ganze bourgeoise Scheinwelt nimmt eine bedrohliche Form an. Ich nehme eine Dusche und lege mich frustriert in das viel zu grosse Bett mit seinen vier Kopfkissen und meterdicken Matratze schlafen.
Gut ausgeruht mit aufgesetzt freundlicher Mine, ducke ich mich an der Rezeption vorbei, um mich auf das üppige Frühstücksbuffet zu stürzen. Entgegen meiner Gewohnheiten lasse ich ein Ei in den dafür vorgesehenen Kocher rutschen. Nur die Sanduhr schafft es nicht an meinen Tisch.
Erschöpft nach dem zweiten Auftritt lenke ich meine müden Knochen etwas unsicher ins Hotel. Vielleicht war das mit dem Bad ja gar nicht so schlimm; und ich war wohl etwas überreizt. Ich mache mir Hoffnung und entführe meine Gedanken ins ersehnte Bad. Ich versuche ein anderes Licht; Optionen gibt es zur Genüge, um eventuellen Schattenwurf zu vermeiden. Ich knie mich vor die Wanne hin, stecke meinen Kopf rein und sehe sie sofort wieder, diese zebragemusterte Mondlandschaft. Es ist also wahr. Es kotzt mich so an. Dieses Hotel, das Festival, diese Stadt; ein riesiges schmieriges Disneyland. Die Guillotine fällt, entrumpft rollt mein Kopf ins Bad. Verstört richte ich mich auf. Geschlagen unter der Dusche weiss ich, welcher Kopf jetzt rollen muss.
Die Denunziation habe ich auf den nächsten Tag verschoben und erwidere freundlich gequält das Lächeln der Rezeption auf meinem Gang über den roten Teppich zum Frühstücksbuffet. Das Ei flutscht schon fast von alleine ins kochende Wasser; nur die Sanduhr schafft es wieder nicht an den Tisch.
Nach dem dritten und letzte Auftritt, mit all dem Gepäck endlich im Hotel angekrochen, sehne ich mich nur noch nach diesem einen heissen Bad und scheine zu etlichen Zugeständnissen bereit zu sein. So knie ich mich nun zum dritten Mal vor die Wanne. Diesmal splitternackt, den Arm freundschaftlich auf den kalten Rand gelegt, den Kopf schräg darauf, der Rest des Körpers, wie eine Dali-Uhr, auf dem Marmorboden zerfliessend.
Verträumt und erschöpft hängen meine Augen an der zebragestreiften Mondlandschaft, wobei die Finger meiner linken Hand sich spielerisch an ihr zu schaffen machen. Ich nehme den Daumen in den Mund und versehen mit reichlich Speichel reibe ich an ihr. Erst zärtlich, dann immer heftiger. Schon wird es heiß zwischen Daumen und Mondlandschaft. Und siehe da! Es formen sich kleine schwarze Würmchen zwischen den beiden so verschiedenen Flächen. Triumphierend halte ich meinen Daumen in die Höhe, als würde ich ihn jemandem zeigen wollen. Auf seiner Kuppe als Beweis, kleine schwarze Würmchen, durch Hitze und Reibung windend tanzend.
Du wirst diesen Dreck morgen beim Auschecken der Rezeption auf den Tisch schmieren, faucht es wieder aus meinem Schädel. Mein schlaff hängender Körper will sich trotzig erheben und entschlossen zur Dusche greifen. In diesem Moment lüftet sich der letzte Schleier und die wahre Ursache der Mondlandschaft offenbart sich. Sie befindet sich genau dort, wo man beim Einsteigen in die Wanne, seine dreckigen Fersen mit vollem Gewicht in die Wölbung drückt.
Der noch eben zu neuen Kräften und Taten erwachte Körper sackt unmittelbar in sich zusammen. Mit einem Schlag sind sie da ... alle, die vor mir in dieser Wanne gelegen sind. Alle, die Reisenden, Männer und Frauen, Greise und Kinder, sich Liebenden oder Verzweifelten. Alle sind plötzlich da. Mit meinem eigenen Speichel habe ich mich eben durch all ihre Existenzen hindurchgerieben. Es müssten Hunderte, gar Tausende sein. Ich sehe ihre Gesichter, ich höre ihre Stimmen. Ich sehe ihre nackten Glieder sich in der Wanne winden.
Die Dali-Uhr hat nun definitiv meine Existenz fest im Griff. Unfähig auch nur einen Beschluss zu fassen, greift meine Hand instinktiv nach dem Wasserhahn als sei es der letzte, rettende Griff. Wasser plätschert in die Tiefe. Die Mondlandschaft versinkt Zentimeter um Zentimeter unter einer glasklaren Fläche. Ich unterbreche den Fluss, um sie nur wenige Zentimeter überragend, warm und zärtlich zu überdecken. Ich will sie nicht zu sehr verdünnen. Es ist ganz klar, was jetzt folgen wird, und es ist ganz klar, dass es auch so sein wird. Nur ich hatte keinen blassen Schimmer, wie und ob überhaupt dazu fähig, ich diese Fläche jemals betreten, geschweige denn durchstossen kann. Aufgerappelt, mich auf meinen steifen, kalten Beinen stützend, starre ich wie ein Selbstmörder über die Klippe, meinem Untergang entgegen. Ich muss da rein. Während ich mit gesenktem Kopf, meinen, mit nur den Armen auf dem Wannenrand aufgestützten Leib, den Zehen folgend, ins Unmögliche schiebe, lassen ringförmige Wellen die Mondlandschaft ertanzen. Lichter brechen und werfen tausend Gesichter flackernd an kahle Wände. Alle starren sie mich an. In schneidender Stille.
Endlich angekommen auf den Knien, vor dem Schafott oder dem Altar, oder im selbstgeschaufelten Grab, verharre ich versteinert. Meine Finger befreien mich aus dieser feierlichen, gar anmutigen, aber mit ihrer Stille und absolutem Gehorsam unerträglichen Situation. Auf den knapp unter Wasser liegenden Oberschenkeln ausgeruht, gleiten sie jetzt eng an meinem Fleisch entlang unauffällig in die Tiefe. Dort stossen sie unweigerlich auf die durch die Wärme etwas schmierig gewordene zebragestreifte Mondlandschaft. Ehrfürchtig sanft, fast zufällig, schmiegt sich der gebeugte Handrücken zum ersten scheuen Kontakt. Wie man einem fremden Hund zur Bekanntschaft erst mal den Handrücken an die feuchte Nase hält und nicht gleich seine Finger riskiert. An den Knien vorbei gezogen, wenden sich meine Hände simultan und gleiten jetzt mit weit gespreizten Fingern und offener Handfläche, das Relief der Mondlandschaft vorsichtig abtastend, nach vorne. Wie bei einer Blindenschrift strömen an meinen Fingerkuppen vorbei längst vergangene Eindrücke unzähliger Existenzen. Über alle ihre Glieder streifend versinken beide Hände in einem Meer verdichteter Existenz. Der daran hängende Rest des Körpers wird unweigerlich mit in die Tiefe gezogen.
Um nicht erbärmlich zu ertrinken, winde ich mich im letzten Moment halb um meine gekrümmte Achse, falle rutschend, schliesslich seitlich nach vorne gleitend, über die schmierige Mondlandschaft hinweg und lande sanft gedreht wie ein Baby auf dem Rücken, alle Viere von mir gestreckt. Ehe ich mich versehe, sind die Wogen geglättet und die mich eben noch gnadenlos nach unten ziehenden Glieder, stützen mich sanft und retten mich vor dem Ertrinken. Erlöst und sicher aufgehoben treibt Wohllust das Salz aus den Augen während dem ich feierlich schwebend still in der Mondlandschaft treibe.
Unfähig auch nur eine winzige Regung hinzuzufügen, scheinen meine Augen das einzig in meinem Körper zu sein, das noch zu mir hält. Mit ihrer Hilfe fahre ich tastend, nach Halt suchend, mir fremden Gliedern entlang. Auf der Höhe meines Gliedes oder demjenigen eines anderen, ergiesst sich vulkanartig ein nie enden wollender Orgasmus, und zukünftige dreckige Fersen purzeln die Wannenwand empor. Endgültig jeglichem Rest meiner selbst beraubt, das Subjekt in der schleimigen Suppe auflösend, gelingt es mir gerade noch mit den Zehen den Stöpsel rauszuziehen und alles fliesst in die andere Richtung aus. Meine kläglichen Reste rappeln sich kalt aus der Wanne, nicht ohne mit letzter Kraft ihre Fersen in die Wölbung zu drücken. Ohne Dusche, ohne mich abzutrocknen entziehe ich mich, das kostbare Nass am Körper hängend, nackt schlotternd ins Bett. Die wohltuende Wärme erlöst mich in den Schlaf.
Erleichtert darüber, mich nicht beschweren zu müssen, vom nächtlichen Bad gezeichnet, den Augen der Rezeption ausweichend, entgleite ich zum Frühstücksbuffet. Die Sanduhr kommt mit an den Tisch. Ich habe drei Minuten.
Als Symbol und Produkt des Zerfalls, rieselt der Sand langsam aber gehorsam durch die kurze Verengung, die beide Räume miteinander verbindet. Meine Augen darauf gerichtet sehe ich plötzlich meine Wanne wieder. Vielmehr zwei Wannen mit dem Abfluss sich verbindend. Die eine nach oben geöffnet, die andere nach unten. Die winzigen Sandkörner drücken sich wie die Fersen um die kleinen Öffnungen. Dort am Ende oder am Anfang des einen oder des anderen Raumes, hinterlassen sie ihre Abdrücke, während sie auf ihren Fall warten. Abdrücke die durch Reibung und Druck zu schwarzen, sich windenden, tanzenden Würmchen werden. Zwischen diesen beiden Räumen, in der kurzen Verengung eingequetscht, verdichtet sich der Moment. Gebildet aus unzähligen Abdrücken, die wie verstaubte Spinnennetze im heissen Kamin, rhythmisch vibrierend flattern. Die durch sie fallenden oder als Erinnerungen kleben bleibenden Ereignisse versetzen sie in Schwingung und beschallen den Moment. Sein Echo hallt in beiden Räumen wie ein nie enden wollender Urknall in seinen Parallelwelten.
Das Dreiminutenei wurde längst zum Osterei. Ich mache mir damit ein Sandwich, checke schleunigst aus und verlasse das Disneyland.
Die vierstündige Zugfahrt verbringe ich wieder vorwiegend surfend auf meinen Fersen. Der Druck des unter mir gelegenen Raumes durchblättert mich wild wie der Wind die Seiten eines aufgeschlagenen Buches. Wellenförmig geschleuderte Buchstaben vermischen sich vibrierend im Takt des Zuges zu spiralförmigen Gebilden. Die Landschaft rieselt vorbei.