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Urknall in der Badewanne

Vor einem Jahr wurde ich mit dem Stück „Enduring Freedom“ an ein Festival in Frankreich eingeladen. Es waren tolle Bedingungen mit guter Gage und Unterbringung im Hotel. Normalerweise bin ich es anders gewöhnt. Gut gelaunt mache ich mich mit meinen Neonröhren auf den Weg. Das Kostüm, in diesem Fall ein schwarzer Anzug mit Hut, umhüllt bereits meinen Körper. Ich reise nicht gerne mit viel Gepäck und spiele öfters mit der Auflösung von Grenzen. Meine Vorstellung fängt also bereits mit der Reise an.

Die vierstündige Zugfahrt verbringe ich stehend. Eine Angewohnheit, die ich mir in Tokyo zu eigen machte. Ich stelle mich meistens möglichst unauffällig mit dem Gesicht gegen die Türe, so als würde ich interessiert aus dem Fenster schauen. Ohne mich mit den Händen festzuhalten, das Gewackel des Zuges mit kleinen Gegenbewegungen ausgleichend, wehre ich mich gegen den Verlust des Gleichgewichts. Dabei kommt es in erster Linie auf eine gute Beinarbeit an. Aber auch der Oberkörper sollte sehr flexibel und durchlässig sein. Für den Preis des Zugtickets kriege ich also zusätzlich eine Ganzkörpermassage und trainiere nebenbei Gleichgewichtssinn und Feinkoordination.

Angekommen im Hotel stelle ich erfreut fest, dass ich nicht nur eine eigene Dusche, sondern sogar ein Bad habe. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal in diesen Genuss gekommen bin, aber es dürfte gut ein, zwei Jahre her sein. Ich freue mich also wie ein Kind, nach der Vorstellung ins heisse Wasser einzutauchen.

Erschöpft nach der Premiere mache ich mich daran mein Bad vorzubereiten. Das eine Schamhaar meines Vorgängers oder meiner Vorgängerin spüle ich noch schnell und grosszügig den Abfluss runter. Ich muss mich hinknieen um den Stöpsel an seinen vorgesehenen Platz zu stecken. In diesem Moment, mein Kopf verschwindet halbwegs in der Wanne, sehe ich in ihrem unteren Drittel, dort wo sich die vier Wände in einer eleganten Wölbung mit dem Boden treffen, seltsame farbliche Abstufungen. Bei genauem Hinsehen entpuppt sich besagte Stelle als zebragemusterte Mondlandschaft. Normalerweise, und auch weil ich es anders gewohnt bin, kümmern mich solche Details nicht. Diesmal ist es anders. Ist es meine Erschöpfung oder die Überheblichkeit, die mir wegen dem üppig ausgestatteten Hotel, das sich mit diesem Bad dem bourgeoisen Traum seiner Kundschaft beugt, in den Kopf schoss? Mein Badetraum zerplatzt jäh. Mein alter ego steigt auf die Barrikaden und weigert sich vehement, seine Knochen in diesem Dreck zu suhlen. Diesmal wirst du nicht klein beigeben, wirst du dich an der Rezeption beschweren, wirst du dein Recht auf eine saubere Wanne einfordern, faucht es aus einer Ecke meines Schädels. Nach einem Auftritt bin ich so mancherlei Gemütsverfassungen gewöhnt, aber jetzt bin ich selber erstaunt über meiner Reaktion. Etwas unbeholfen greife ich nach dem nächsten Handtuch, schmiere Seife darauf und mache mich an die besagte Stelle. Es hilft nichts. Dafür begreife ich, wie diese Mondlandschaft zustande gekommen ist. Immer wieder habe ich mich in meiner Laufbahn als Putzkraft verdingt. Ich bin also sozusagen vom Fach. Ich sehe es genau vor mir. Schnell mal im oberen Drittel des Bades eine horizontale Linie Putzmittel anschmieren, das Ganze nach unten laufen lassen, wobei sich das aggressive Mittel in den Dreck frisst, und dann einfach mit der Dusche kurz drauf halten. Nichts von bücken, geschweige den die Wände abreiben. Meine Wut auf diese ganze bourgeoise Scheinwelt nimmt eine bedrohliche Form an. Ich nehme eine Dusche und lege mich frustriert in das viel zu grosse Bett mit seinen vier Kopfkissen und meterdicken Matratze schlafen.

Gut ausgeruht mit aufgesetzt freundlicher Mine, ducke ich mich an der Rezeption vorbei, um mich auf das üppige Frühstücksbuffet zu stürzen. Entgegen meiner Gewohnheiten lasse ich ein Ei in den dafür vorgesehenen Kocher rutschen. Nur die Sanduhr schafft es nicht an meinen Tisch.

Erschöpft nach dem zweiten Auftritt lenke ich meine müden Knochen etwas unsicher ins Hotel. Vielleicht war das mit dem Bad ja gar nicht so schlimm; und ich war wohl etwas überreizt. Ich mache mir Hoffnung und entführe meine Gedanken ins ersehnte Bad. Ich versuche ein anderes Licht; Optionen gibt es zur Genüge, um eventuellen Schattenwurf zu vermeiden. Ich knie mich vor die Wanne hin, stecke meinen Kopf rein und sehe sie sofort wieder, diese zebragemusterte Mondlandschaft. Es ist also wahr. Es kotzt mich so an. Dieses Hotel, das Festival, diese Stadt; ein riesiges schmieriges Disneyland. Die Guillotine fällt, entrumpft rollt mein Kopf ins Bad. Verstört richte ich mich auf. Geschlagen unter der Dusche weiss ich, welcher Kopf jetzt rollen muss.

Die Denunziation habe ich auf den nächsten Tag verschoben und erwidere freundlich gequält das Lächeln der Rezeption auf meinem Gang über den roten Teppich zum Frühstücksbuffet. Das Ei flutscht schon fast von alleine ins kochende Wasser; nur die Sanduhr schafft es wieder nicht an den Tisch.

Nach dem dritten und letzte Auftritt, mit all dem Gepäck endlich im Hotel angekrochen, sehne ich mich nur noch nach diesem einen heissen Bad und scheine zu etlichen Zugeständnissen bereit zu sein. So knie ich mich nun zum dritten Mal vor die Wanne. Diesmal splitternackt, den Arm freundschaftlich auf den kalten Rand gelegt, den Kopf schräg darauf, der Rest des Körpers, wie eine Dali-Uhr, auf dem Marmorboden zerfliessend.

Verträumt und erschöpft hängen meine Augen an der zebragestreiften Mondlandschaft, wobei die Finger meiner linken Hand sich spielerisch an ihr zu schaffen machen. Ich nehme den Daumen in den Mund und versehen mit reichlich Speichel reibe ich an ihr. Erst zärtlich, dann immer heftiger. Schon wird es heiß zwischen Daumen und Mondlandschaft. Und siehe da! Es formen sich kleine schwarze Würmchen zwischen den beiden so verschiedenen Flächen. Triumphierend halte ich meinen Daumen in die Höhe, als würde ich ihn jemandem zeigen wollen. Auf seiner Kuppe als Beweis, kleine schwarze Würmchen, durch Hitze und Reibung windend tanzend.

Du wirst diesen Dreck morgen beim Auschecken der Rezeption auf den Tisch schmieren, faucht es wieder aus meinem Schädel. Mein schlaff hängender Körper will sich trotzig erheben und entschlossen zur Dusche greifen. In diesem Moment lüftet sich der letzte Schleier und die wahre Ursache der Mondlandschaft offenbart sich. Sie befindet sich genau dort, wo man beim Einsteigen in die Wanne, seine dreckigen Fersen mit vollem Gewicht in die Wölbung drückt.

Der noch eben zu neuen Kräften und Taten erwachte Körper sackt unmittelbar in sich zusammen. Mit einem Schlag sind sie da ... alle, die vor mir in dieser Wanne gelegen sind. Alle, die Reisenden, Männer und Frauen, Greise und Kinder, sich Liebenden oder Verzweifelten. Alle sind plötzlich da. Mit meinem eigenen Speichel habe ich mich eben durch all ihre Existenzen hindurchgerieben. Es müssten Hunderte, gar Tausende sein. Ich sehe ihre Gesichter, ich höre ihre Stimmen. Ich sehe ihre nackten Glieder sich in der Wanne winden.

Die Dali-Uhr hat nun definitiv meine Existenz fest im Griff. Unfähig auch nur einen Beschluss zu fassen, greift meine Hand instinktiv nach dem Wasserhahn als sei es der letzte, rettende Griff. Wasser plätschert in die Tiefe. Die Mondlandschaft versinkt Zentimeter um Zentimeter unter einer glasklaren Fläche. Ich unterbreche den Fluss, um sie nur wenige Zentimeter überragend, warm und zärtlich zu überdecken. Ich will sie nicht zu sehr verdünnen. Es ist ganz klar, was jetzt folgen wird, und es ist ganz klar, dass es auch so sein wird. Nur ich hatte keinen blassen Schimmer, wie und ob überhaupt dazu fähig, ich diese Fläche jemals betreten, geschweige denn durchstossen kann. Aufgerappelt, mich auf meinen steifen, kalten Beinen stützend, starre ich wie ein Selbstmörder über die Klippe, meinem Untergang entgegen. Ich muss da rein. Während ich mit gesenktem Kopf, meinen, mit nur den Armen auf dem Wannenrand aufgestützten Leib, den Zehen folgend, ins Unmögliche schiebe, lassen ringförmige Wellen die Mondlandschaft ertanzen. Lichter brechen und werfen tausend Gesichter flackernd an kahle Wände. Alle starren sie mich an. In schneidender Stille.

Endlich angekommen auf den Knien, vor dem Schafott oder dem Altar, oder im selbstgeschaufelten Grab, verharre ich versteinert. Meine Finger befreien mich aus dieser feierlichen, gar anmutigen, aber mit ihrer Stille und absolutem Gehorsam unerträglichen Situation. Auf den knapp unter Wasser liegenden Oberschenkeln ausgeruht, gleiten sie jetzt eng an meinem Fleisch entlang unauffällig in die Tiefe. Dort stossen sie unweigerlich auf die durch die Wärme etwas schmierig gewordene zebragestreifte Mondlandschaft. Ehrfürchtig sanft, fast zufällig, schmiegt sich der gebeugte Handrücken zum ersten scheuen Kontakt. Wie man einem fremden Hund zur Bekanntschaft erst mal den Handrücken an die feuchte Nase hält und nicht gleich seine Finger riskiert. An den Knien vorbei gezogen, wenden sich meine Hände simultan und gleiten jetzt mit weit gespreizten Fingern und offener Handfläche, das Relief der Mondlandschaft vorsichtig abtastend, nach vorne. Wie bei einer Blindenschrift strömen an meinen Fingerkuppen vorbei längst vergangene Eindrücke unzähliger Existenzen. Über alle ihre Glieder streifend versinken beide Hände in einem Meer verdichteter Existenz. Der daran hängende Rest des Körpers wird unweigerlich mit in die Tiefe gezogen.

Um nicht erbärmlich zu ertrinken, winde ich mich im letzten Moment halb um meine gekrümmte Achse, falle rutschend, schliesslich seitlich nach vorne gleitend, über die schmierige Mondlandschaft hinweg und lande sanft gedreht wie ein Baby auf dem Rücken, alle Viere von mir gestreckt. Ehe ich mich versehe, sind die Wogen geglättet und die mich eben noch gnadenlos nach unten ziehenden Glieder, stützen mich sanft und retten mich vor dem Ertrinken. Erlöst und sicher aufgehoben treibt Wohllust das Salz aus den Augen während dem ich feierlich schwebend still in der Mondlandschaft treibe.

Unfähig auch nur eine winzige Regung hinzuzufügen, scheinen meine Augen das einzig in meinem Körper zu sein, das noch zu mir hält. Mit ihrer Hilfe fahre ich tastend, nach Halt suchend, mir fremden Gliedern entlang. Auf der Höhe meines Gliedes oder demjenigen eines anderen, ergiesst sich vulkanartig ein nie enden wollender Orgasmus, und zukünftige dreckige Fersen purzeln die Wannenwand empor. Endgültig jeglichem Rest meiner selbst beraubt, das Subjekt in der schleimigen Suppe auflösend, gelingt es mir gerade noch mit den Zehen den Stöpsel rauszuziehen und alles fliesst in die andere Richtung aus. Meine kläglichen Reste rappeln sich kalt aus der Wanne, nicht ohne mit letzter Kraft ihre Fersen in die Wölbung zu drücken. Ohne Dusche, ohne mich abzutrocknen entziehe ich mich, das kostbare Nass am Körper hängend, nackt schlotternd ins Bett. Die wohltuende Wärme erlöst mich in den Schlaf.

Erleichtert darüber, mich nicht beschweren zu müssen, vom nächtlichen Bad gezeichnet, den Augen der Rezeption ausweichend, entgleite ich zum Frühstücksbuffet. Die Sanduhr kommt mit an den Tisch. Ich habe drei Minuten.

Als Symbol und Produkt des Zerfalls, rieselt der Sand langsam aber gehorsam durch die kurze Verengung, die beide Räume miteinander verbindet. Meine Augen darauf gerichtet sehe ich plötzlich meine Wanne wieder. Vielmehr zwei Wannen mit dem Abfluss sich verbindend. Die eine nach oben geöffnet, die andere nach unten. Die winzigen Sandkörner drücken sich wie die Fersen um die kleinen Öffnungen. Dort am Ende oder am Anfang des einen oder des anderen Raumes, hinterlassen sie ihre Abdrücke, während sie auf ihren Fall warten. Abdrücke die durch Reibung und Druck zu schwarzen, sich windenden, tanzenden Würmchen werden. Zwischen diesen beiden Räumen, in der kurzen Verengung eingequetscht, verdichtet sich der Moment. Gebildet aus unzähligen Abdrücken, die wie verstaubte Spinnennetze im heissen Kamin, rhythmisch vibrierend flattern. Die durch sie fallenden oder als Erinnerungen kleben bleibenden Ereignisse versetzen sie in Schwingung und beschallen den Moment. Sein Echo hallt in beiden Räumen wie ein nie enden wollender Urknall in seinen Parallelwelten.

Das Dreiminutenei wurde längst zum Osterei. Ich mache mir damit ein Sandwich, checke schleunigst aus und verlasse das Disneyland.

Die vierstündige Zugfahrt verbringe ich wieder vorwiegend surfend auf meinen Fersen. Der Druck des unter mir gelegenen Raumes durchblättert mich wild wie der Wind die Seiten eines aufgeschlagenen Buches. Wellenförmig geschleuderte Buchstaben vermischen sich vibrierend im Takt des Zuges zu spiralförmigen Gebilden. Die Landschaft rieselt vorbei.

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Mit 99 Jahren besuchte meine Grossmutter zum letzten Mal eine meiner Vor- stellungen. Wie immer habe ich ihr einen Platz in der Mitte der ersten Reihe reserviert, um zu verhindern, dass sie in ihrem hohen alter noch die Stufen der Tribüne hochgehen muss.

Es war fünf Minuten nach offiziellen Beginn der Performance als der Bühnenmanager zu mir hinter die Bühne trat und meinte, die Vorstellung sei ausverkauft und wir sollten jetzt beginnen. Ein Blick auf die volle Tribüne offenbarte mir sofort die Abwesenheit meiner Grossmutter. Da war nur noch ein einziger leerer Platz in der Mitte der ersten Reihe. Da ich mir hundertprozentig sicher war, dass meine Grossmutter erscheinen wird, bat ich um zusätzliche fünf Minuten. Als auch diese verstrichen, und der Bühnenmanager mit Verweis auf das ungedul- dige Publikum zusehends nervöser wurde, forderte ich ihn auf, vor das Publikum zu treten und zu erklären, dass wir auf die Grossmutter warteten.

Just in diesem Moment vernehme ich die laute Stimme meiner Grossmutter, wie sie sich an meinen Bruder wandte, der an der Kasse die Tickets verkaufte. “Hallo Zeno, gut dass ich dich sehe”, meint sie mit einer lauter Stimme, die nur alten Leuten eigen sein kann, deren Gehör nachgelassen hat. “Weisst du, mein Fernseher ist kaputt”, donnert sie noch nach. Das bis anhin etwas nervös wartende Publikum verstummt schlagartig und deren 150 Köpfe wenden sich gleichzeitig in Richtung Kasse, die sich gut einsehbar auf deren linken Seite befindet. Nachdem ein Termin für die Reparatur des besagten Gerätes vereinbart wurde und meine Grossmutter ihre Freikarte entgegennimmt, macht sie sich auf den etwa 8 Meter langen Weg zu ihrem reservierten Platz. Dieser führt geradewegs von der Kasse, parallel zwischen Bühne und Tribüne entlang.

Erstaunt blicken 300 Augen auf 99 Jahre Leben, das sich Schritt um Schritt sei- nem Ziel annähert. Einem sich seinem Ende zugewandten Leben. Schritte, Raum und Zeit durchschneidend, Figuren und Zeichen wild und dann wieder sanft in die Luft wirbelnd, angezogen vom Ende des Anfangs. Gebannt von die- ser Szene, den Blick abwechselnd auf die Grossmutter und dann wieder auf das Publikum geheftet, rühre ich mich nicht vom Fleck und harre der Dinge. Mit einmal erscheinen mir die Zuschauer in Tote verwandelt. Ein Schauer läuft mir den Rücken runter. Gespannt verfolgen sie die letzten Schritte eines zu Tode verurteilten. Der einzige leere Stuhl unter ihnen sehnt sich nach dem Gewicht vergangenem Lebens.

300 tote Augen durchbohrten jede Regung, seien es Zeichen der Hoffnung, Verzweiflung oder Hingabe an das Schicksal. Meine Grossmutter wird zu einem Objekt in der sich das ganze Paradox des Lebens wieder spiegelt. Jeder Schritt ins Leben führt unweigerlich dem Tode entgegen. Diesen Weg alleine zu gehen ist beschwerlich genug. Beobachtet von 150 toten Augen, erscheint er in einer neuen Dimension. Wie ist es möglich in jedem einzelnen dieser Schritte, von denen jeder unweigerlich der Letzte sein könnte, etwas zu berühren was die Neugierde der toten Augen befriedigen könnte? Die Spannung und Betroffen- heit dieses Augenblicks trieben mir die Tränen in die Augen.

Das tote Publikum gezeichnet durch die Last des Fleisches, gesättigt von all den gekosteten oder nur gerochenen, verbotenen oder versprochenen Früchten des Lebens, ist Gierig auf etwas Neues, Unbekanntes, ihm vielleicht Entgangenes. Dabei gab es nicht viel was ihre Aufmerksamkeit erweckte. Das Meiste hatten sie schon abertausendmal wiedergekäut. 99 jährige, faltig und brüchig gewordene Hände greifen zum X-ten Mal in den leeren Raum, auf der Suche nach Halt und Stütze, wobei die Hoffnung darauf wie ein Traum nach dem Aufwachen, unwiderruflich wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Ein tragischer Clown oder raffinierten Zauberkünstler hätte es nicht besser machen können. So kurz vor dem Ende verwischt sich die Zielstrebigkeit der Bewegung, als wäre sie durch die Dauer abgenutzt, fahrig geworden; vielleicht aber auch ihrer Unmöglichkeit bewusst geworden, dem Wunsch folgend, das Leben zu berühren, dem Tode zu entrinnen. Gleich einem fast erloschenem Feuer, züngelt mal hier mal da erneut eine schwache Flamme empor. Manchmal ist es nur eine Glut oder der rauchige Geruch, der an Vergangenes erinnert. Unmöglich die Zeit anzuhalten, dem Sog des leeren Stuhles zu entgehen.

Bei alten Menschen ist es oft wie bei kleinen Kindern, wo die Bewegung nicht durch das Alltägliche, Zielorientierte “normale Handeln” und unter dem Druck einer sozialen Anpassung in ein Korsett gepresst wird; sondern einem eher archetypischen Reflex folgend, das Wesentliche oft aber Paradoxe, hinter der Rationalität Liegende, ausdrückt.

Die einzelne Bewegung gewinnt so an Intensität und Ausdruckskraft. Man könn- te sie mit einer kurvigen Bergstrasse voller Schlaglöcher vergleichen, in dessen Kurven sich immer wieder schönste Aussichten auftun, ohne Gewähr ob man die Tortur überlebt, geschweige denn, die nächste Kurve kriegt. Im Gegensatz dazu ist die Autobahn gähnend langweilig.

Zentimeter um Zentimeter, als befände sich meine Grossmutter in einem schwer umkämpften Schützengraben des ersten Weltkrieges, kämpft sie sich vorwärts und hinterlässt vom Wunsch getrieben, sich wieder und wieder in das Leben zu stürzen, Abdrücke in Raum und Zeit. Diese Abdrücke schmiegen sich manchmal liebkosend um ihren zerbrechlichen Körper, andermal prügeln sie verzweifelnd auf ihn ein, vorwärts zu immer wilderen Verrenkungen peitschend. Um die Augen zu besänftigen, dem Grauen zu entweichen, bleibt nur noch der Exzess. Das tote Publikum wird fasziniert durch das Verbrennen des Seins. Die Zerreibung der Existenz zwischen Leben und Tod. Meine Grossmutter verwandelt sich in eine lachende Furie, tanzend umwirbelnd von toten Augen. Für Sekunden gelingt es ihr deren Attacken zurück zu schlagen und triumphierend, reitend auf einer Woge von Freude, Lust, ja Erotik, in der Ferne eines tobenden Meeres dem Schicksal zu entgleiten. Staunend und berührt von diesem Opfer, stellen die toten Augen ihre Attacken ein. Um nur kurze Zeit später, mit frischen unersättlichen Kräften, wie ein Schwarm Raben, die sich auf die neu umgepflügte noch dampfende Scholle stürzen um die Würmer raus zu zerren, sich erneut in das verzweifelnd sich wehrende Fleisch zu bohren. Solange bis dieses nunmehr erbärmliche Wesen in all seine Peinlichkeiten zerlegt ist. Ein letztes Aufbäumen, ein Ruck, gefolgt von stillem Zucken und meine Grossmutter reiht sich ein, zerfällt und erlischt auf dem letzten leeren Platz in der ersten Reihe. Paradoxerweise und objektiv gesehen, passiert dieser ganze Vorgang mit all seiner Dramatik sehr langsam und bedächtig, ja schon fast in stoischer Ruhe.

Plötzlich wenden sich 302 tote Augen forschend und suchend in Richtung leere Bühne, wo ich wie versteinert hinter dem Vorhang Schutz suchte. Es trennen mich nur noch Sekunden bis ich an der Reihe bin. In meinem Kostüm, weiss geschminkt und auf den Auftritt wartend, komme ich mir plötzlich ziemlich lächerlich vor. Die ganze Choreographie im Kopf, ein Hin und Her, Rauf und Runter, mal schnell, mal langsam und dann so tief berührt von meiner Grossmutter wie sie ein paar Schritte tut. Ich bin kurz davor mich mit der Ansage ans Publi- kum zu wenden, dass dies Butoh-Tanz gewesen ist, und ich dem nichts mehr hinzuzufügen hätte, um mich so aus meiner seltsamen Peinlichkeit zu retten. Etwas verwirrt und hin und her gerissen, entschied ich mich trotzdem zu tanzen. Obwohl ich weder Publikum noch Tänzer war, war dieser Gang meiner Grossmutter wohl meine bisher beste Vorstellung.

Am nächsten Tag kaufte ich ein grosse Rose und machte mich auf den Weg zu meiner Grossmutter. Sie lebte alleine und wenn ich in der Schweiz war, habe ich sie des öfters besucht. Auch wollte ich ihr danken für die Inspiration des vergangenen Abends. Nach der Übergabe der Rose setzte ich mich am Küchentisch auf meinen gewohnten Platz. Meine Grossmutter stellte die Rose in ein Vase gefüllt mit Wasser und diese wiederum auf den Tisch, bevor sie sich mir gegenüber hinsetzte und wir unter der Rose zu Mittag sassen.

Nach dem Essen war es Zeit für meine Grossmutter ihren gewohnten Mittagsschlaf abzuhalten und ich wollte, bevor ich dann wieder ging, die Küche reinigen. Also verabschiedeten wir uns, und sie machte sich auf den Weg in Richtung Schlafzimmer, nicht ohne davor die grosse Rose samt Vase mit beiden Händen zu greifen um sie neben ihrem Bett auf das Nachttischen zu stellen. So stand ich also hinter ihr, wie sie sich etwas gebückt und krumm, mit beiden Händen die Vase umklammernd, auf den Weg machte. Währenddem ich ihr da- bei zusah überkam mich das komische Gefühl, als würde nicht meine Gross- mutter die Vase mit der Rose tragen, sondern vielmehr würde sie von der Rose direkt, nicht etwa in den Mittagsschlaf, sondern in den Tod geführt. Wie ein Hund an der Leine folgt sie brav dem Meister. Oder zieht der Hund am Meister? Vom Leben in den Tod geführt, oder vom Tod ins Leben geführt. Das Leben begreifen bedeutet den Tod begreifen. Leben wollen heisst sterben wollen. Fürchten wir uns mehr vor dem Leben oder vor dem Tode? All diese Fragen bombardieren mich, während dem ich wie hypnotisiert auf ihren krummen, asymmetrisch gebeugten Rücken starre, aus dem eine Rose empor wächst.

Gerade als meine Grossmutter sich anschickt die offene Küchentür zu durch- schreiten, richtet sich ihr am Rücken hängender Blick mühsam auf, und wie bei einer Kette, folgt Wirbel um Wirbel, bis der Oberkörper fast so gerade wie die Rose in der Vase, im Raum steckt. Sowohl der Kopf der Rose als auch derjenige meiner Grossmutter befinden sich nun auf gleicher Höhe. Ebenbürtig, aufrecht und gerade, blickt sie dem Leben furchtlos ins Gesicht. Eigentlich wollte sie sich nur vergewissern, dass die Rose am Türrahmen nicht zu Schaden kommt.

Die zum Tode Geweihte nimmt nochmals all ihre Kraft zusammen, zieht sich mit beiden Händen an der Nabelschnur raus aus dem der Zeit unterjochten, verwelkten Körper, rein in die Blüte des Lebens. Genüsslich zieht sie am Duft jungfräulicher Lüsternheit, hüpft verspielt wie ein junges Fohlen über pralle Wiesen.

Ein Hauch von Leichtigkeit streift die müden Knochen, verleiht ihnen für kurze Zeit Flügel, und wie ein Schwarm Vögel im Frühling, kreischen sie vergnügt über Baumwipfeln. Die Unbeschwertheit ihres Seins verwandelt die Küche in ein Sommermärchen. Plötzlichen spriessen aus sechzig Milliarden Zellen, sechzig Milliarden Rosen. Hin und her gerissen in alle Richtungen, ziehend und stossend; ein rasend um sich Schlagendes, Wirbelndes, allen Naturgesetzen Trotzendes, geifernd und schreiend, stampfend und tosend; ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt. Unzählige von Dornen zerfetzte Hände, wild gestikulierend, abwehrend kämpfend, versuchen sich aus einem Wald von Stacheln zu befreien. Die Küche gleicht nun einem Schlachthof an dessen blutverschmierten Wänden, zerrissene Körperteile runter gleiten.

Schwarz, tief hängende Wolken ziehen auf, Blitz und Donner brechen die unschuldigen Knochen; krachend fallen sie zu Boden. Ein Häufchen Elend, zu Grunde gerichtet vom Laufe der Zeit, am letzten Strohalm hängend, von ihm unweigerlich in den Tod geführt. Zurück bleiben von Wurzeln gefesselte blanke Knochen und eine riesige Rose triumphierend in den Himmel rankend. Das Leben versinkt im dunklen Nichts, währenddessen die Rose dem Licht entgegen wächst.

Etwas verstört reinige ich die Küche, oder das was noch von ihr übrig blieb, und mache mich schleunigst aus dem Staub.

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Bevor wir uns dem Gehen zuwenden, sollten wir uns mit dem auseinandersetzen was vorher geschieht. Vor dem Gehen stehen wir. Wir nehmen einen Standpunkt ein. In der deutschen aber auch in vielen anderen Sprache wie zum Beispiel im Englischen, „standpoint“ und im Französischen „point de vue“ oder im Japanischen „tachiba“, bedeutet das Wort eine äusserliche sowohl auch innere Haltung, die unsere Existenz auf einen Punkt bringt. Ein Innehalten, Insichgehen bevor wir es wagen oder riskieren, den nächsten Schritt zu gehen. Ein Abwägen, Wiegen, Wagen oder Balancieren bevor wir unser Gleichgewicht aufgeben um unseren Standpunkt zu verlassen. Eine übrigens definitive und absolute Handlung. Nichts wird uns je wieder zur selben Zeit and den selben Punkt bringen. Wir geben uns auf, hin oder auch weg.

Nun folgt der Schritt, oder anders gesagt, er verhindert unseren Fall. Diesen Schritt wagen wir aber nur wenn etwas unser Gleichgewicht stört. Einen Reiz oder Impuls, der von aussen an uns trifft oder von innen uns bewegt. Seinen Standpunkt zu verlassen ist immer ein Risiko und braucht Mut. Ein Schritt oder eben einen Fall ins Ungewisse. Das Verb wagen bedeutet einen unsicheren Ausgang und ist abgeleitet von der Waage. Wir wiegen also ab, wanken und wackeln, legen den Reiz oder Impuls in die Waagschale, bevor wir unseren Standpunkt verlassen und einen Schritt wagen. Das beste Gleichgewicht ist so nahe wie möglich am Ungleichgewicht. Wenn wir stehen, fallen wir gerade nicht. Am gesündesten ist man, je näher man sich an der Krankheit befindet. Am reichsten ist man, je näher man sich an der Armut befindet. Am lebendigsten ist man, je näher man sich dem Tode befindet. Can you stand it?

In Tokyo wohnte ich für etwa drei Jahre an einer schmalen, etwa fünfhundert Meter langen, geraden Strasse. In der Mitte dieser Strasse befand sich ein alter, riesiger Kirschbaum. Mein Weg fort oder nach Hause, führte immer über diese gerade Strasse. Oft begegnete ich dabei einer alten Japanerin auf ihrem Weg. Sie war vielleicht achtzig oder neunzig Jahre alt. Manchmal kam sie mir entgegen oder ich habe sie überholt. Sie ging vornüber gebeugt, wie viele alte Menschen in Japan. Alle zwei, drei Schritte richtete sich ihr alter vom Leben gezeichneter Körper auf, um sich neu zu orientieren. Einmal versuchte ich hinter ihr zu gehen, um Raum und Zeit in ihrem Massstab wahr zu nehmen. Schnell gab ich dieses Vorhaben auf um nicht allzu viel Aufmerksamkeit anderer Passanten auf mich zu lenken, so langsam waren ihre Bewegungen.

Eines Tages, es war anfangs April, der Kirschbaum übertrat gerade den Zenit seiner Blütenpracht und einzelne Blütenblätter schneiten zu Boden, kam mir die alte Frau entgegen. Unsere Wege kreuzten sich, ich dreht mich um und blickte ihr nach. Über ihrem Rücken sah ich die lange Strasse und dessen Ende in der Ferne entschwinden. Die Strasse wurde zu ihrem Weg, symbolisierte ihr Leben und die Schritte, die sie noch bis zu ihrem Tode gehen darf. In der Mitte des Weges war der Kirschbaum in seiner vollen Blüte. Die intensive und schon fast überwältigende Schönheit der Kirschblüten, symbolisiert in Japan die Vergänglichkeit des Lebens und aller Dinge. In der japanischen Kultur wird diese ästhetische Prinzip „mono no aware“ (Pathos der Dinge) genannt. Es beschreibt das Gefühl der Vergänglichkeit, dessen Traurigkeit aber auch Akzeptanz. Kazuo Ohno beschrieb es als Trauer in der Schönheit.

Gespannt blickte ich auf den sich immer wieder aufrichtenden, sich neu orientierenden, alten Körper. Es kam mir vor, als wäre ihre Ausrichtung von den Blüten des Kirschbaumes abhängig. Wie ein Leuchtturm im Sturm weisen die Schönheit der Blüten ihr den Weg. Ich fragte mich, wie ist es möglich unter dieser Schönheit aber eben auch Vergänglichkeit hindurch und in Richtung des eigenen Todes zu gehen? Ein ganz wichtiges Bild im Butoh ist die Tatsache, dass jeder einzige Schritt ins Leben uns dem Tode näher bringt. Ein Paradox das unser Dasein formt. Tatsumi Hijikata, Mitbegründer des Butoh, beschrieb den Gang unteranderem als wandelnde Rauchsäule. Das Leben verbrennt unter unseren Füssen.

Im Gang eines kleines Kindes widerspiegelt sich das Gehen noch in seiner vollen Schönheit und Notwendigkeit. Es verlässt seinen Standpunkt nur wenn es einen Grund hat. Schwankend wiegt es hin und her, und lässt sich leicht vornübergebeugt fallen. Etwas hat Gewicht, ist wichtig, zerstört sein Gleichgewicht und es fällt dank seines Körpergewichts ins Ungewisse. Nur das nachfolgende Bein kann den Sturz vermeiden, bevor es einen neuen Standpunkt erreicht.

Später, nach dem es seine Eltern kopiert hat, geprägt wurde von äusseren Einflüssen, wird sich die Art wie es geht, stark verändern. Der ausgewachsene Mensch geht meist leicht mit den Füssen voran. Wie ein Blinder versucht er sich tastend sich dem Ungewissen anzunähern. Das Gewicht und die Gewichtigkeit haben ihren Motor eingebüsst, sie werden ersetzt durch den äusseren oder inneren Drang, wenn nicht schon fast Zwang, fortzuschreiten. Fortschritte zu machen. Die uns im post-industriellem, vor- digitalen Zeitalter umgebenden oft suggerierten, unzähligen Möglichkeiten, verhindern eine klare Wahl. Die Bewegung deformiert sich zu einem beliebigen Brei der Beiläufigkeit. Es gibt keine dringende Notwendigkeit mehr seinen Standpunkt verlassen zu müssen. Vielmehr schleicht man eher wie ein Dieb, nähert sich seiner Beute an, ohne Risiko einzugehen, seinen Standpunkt verlassen zu müssen. Anders gesagt, man tastet sich über das dünne Eis um ja nicht einzubrechen. Der Sturz wird vermieden um sich in ewiger Sicherheit zu wägen. Der Standpunkt wird nicht verlassen sondern zögernd verschoben.

Eine berühmte japanische Novelle besagt, dass unter dem Kirschbaum die Toten begraben sind. Die Wurzeln des Kirschbaumes schlingen sich um ihre Körper und saugen Tropfen um Tropfen die Essenz ihrer Seele aus. Diese Tropfen speisen die Blüten des Kirschbaumes. Nicht nur schreitet die alte Frau Schritt um Schritt ins Leben und ihrem Tode entgegen, sondern geht über die Knochen ihrer ausgesaugten Vorfahren hinweg und richtet sich nach der Schönheit, gespeist durch die Essenz deren Seelen.

Unsere Beine sind nicht unsere Beine, wie unser Körper nicht unser Körper ist. Durch die Notwendigkeit uns an einen anderen Ort zu bringen, wurden sie über Jahrmillionen hinweg geformt. In ihnen schlummern die Erfahrungen und Erinnerungen unzähliger Vorfahren. Wir können ihnen ruhig vertrauen und müssen sie weder führen noch kontrollieren. Vielmehr sollten wir unser Selbst nicht durch unser Zentrum bestimmen sondern anhand unserer Peripherie. Wie zum Beispiel den Füssen, die uns an Orte bringen, welche gut für uns sind, oder den Händen, die nach Sachen greifen, die gut für uns sind. Nicht das Zentrum bestimmt die Peripherie sondern die Peripherie bestimmt das Zentrum. Auch für die Gesellschaft wäre es interessanter, sich an ihrer Peripherie zu orientieren, als alles vom Zentrum her zu kontrollieren und zu bestimmen. Mit jedem Schritt den wir gehen, ziehen wir wie ein Fischer, an unseren Beinen befestigte Netze aus dem Sumpf unsere Vergangenheit, gefüllt mit Knochen unserer Vorfahren. Wie ein Orakel schleudern wir die Knochen in die Luft, bevor sie sich zu einem neuen Standpunkt auftürmen. Die fallenden, aus der Essenz der toten Seelen gespeisten, rosaroten Blüten, bedecken die bleichen Knochen wie ein neues Gewand. Mit jedem Schritt ziehen wir es aus um gleich wieder in ein Neues zu schlüpfen. Jeder gewagte Schritt ins Ungewisse wird zu einer Metamorphose, geformt und genährt aus dem Sumpf der Vergangenheit, dessen Essenz uns wie ein Leuchtturm durch das Paradox führt, ins Leben zu treten, seinem eigenen Tode entgegen zu gehen.

Physikalisch gesehen ist der Gang ebenso Komplex wie auf der Psychisch-emotionalen Ebene. Die erste notwendige Bewegung ist nicht das Anheben eines Beines, sondern die Befreiung eines Beines. Am einfachsten geschieht dies durch das Einknicken eines Fussgelenkes nach innen und damit Verlagerung des gesamten Körpergewichts auf die Innenseite dieses Beines. Durch die Verlagerung wird die Hüfte auf der wir stehen mit dem vollen Gewicht des Oberkörpers belastet, ganz leicht nach unten und Richtung unseres Zentrums bewegt. Wir stehen somit auf einem Bein und einer Hüfte. Als Reaktion darauf, wird die gegenüberliegende Hüfte leicht angehoben und so die Distanz zwischen der unbelasteten Hüfte und dem Boden vergrössert und daher das daran hängende Bein in einen freien Zustand gebracht. Man kann dies gut erfahren indem man sich auf den Rücken legt und jemanden bittet, an einem Fuss in Richtung der Längsachse des Körpers zu ziehen. Der Fuss an dem gezogen wird ist das Standbein. Die gleichseitige Hüfte folgt diesem Zug und die gegenüberliegende Hüfte verschiebt sich in die entgegengesetzte Richtung wobei das an ihr befestigte Bein auch mitgezogen wird.

Bei den meisten Menschen passiert genau das Gegenteil. Um das Gleichgewicht auf ein Bein zu bringen werden die Hüfte seitwärts, nach vorne oder hinter das Standbein geschoben. Unweigerlich sackt die gegenüberliegende Hüfte etwas nach unten und die Distanz zum Boden verringert sich. Daher muss das Bein zum Schritt angehoben werden, was viel Kraft benötigt und so seinen freien Fall durch die Anspannung der Muskeln verhindert. Man kontrolliert den Schritt um jegliches Risiko auszuschliessen und immer die Möglichkeit zu haben, das Abendteuer vorzeitig abzubrechen.

Zurück auf dem Standbein lässt man das Fussgelenk erneut etwas nach vorne und innen einknicken, das Knie folgt dieser Bewegung, der Körper wird vollends aus seinem Gleichgewicht gebracht und eine Bewegung, als Fluss des Gewichts wird eingeleitet. Das volle Gewicht fällt nun auf eine kleine Fläche hinter dem grossen Zehen des Standbeines. Man schraubt sich spiralmässig in den Boden in Richtung der eigenen Körperachse. Diese Spiralbewegung geht durch den ganzen Körper und teilt ihn sozusagen in zwei Teile auf. Die eine Hälfte auf dem Standbein windet sich leicht nach vorne und der freie Teil nach hinten. Unser Selbst wird zerrissen in zwei Richtungen und widerspiegelt die ganze Dramatik dieses Schrittes. Es folgt ein letztes sich Aufbäumen. Das Steissbein richtet sich auf nach oben und hinten, das Brustbein nach oben und vorne, wobei sich jeder einzelne Wirbel, einer nach dem Anderen nach vorne öffnet, empfänglich gegenüber dem Unbekannten und nach hinten in Richtung Vergangenheit sich verschliesst. Dem Abwägen und Zögern wird ein Ende gesetzt und wir wagen wie ein Selbstmörder den Sprung in den Abgrund.

Bevor wir überhaupt an einen Schritt denken, bringen wir also unser Gleichgewicht auf die minimalste Fläche die nötig ist um gerade noch stehen zu können. So als würde man einen nassen Putzlappen mit beiden Händen um seine Längsachse auswringen. Wir vergewissern uns der Essenz des eigenen Standpunktes, bevor wir es wagen, ihn endgültig und definitiv zu verlassen.

Während der Mittagspause eines Workshops in Barcelona, in dem wir uns intensiv mit dem Stehen und Gehen auseinandersetzten, machte ich einen Spaziergang auf den Ramblas. Seit längerer Zeit habe ich mir angewöhnt beim Gehen ans Gehen zu denken und nicht an mein Bankkonto, was in diesem Moment sowieso nicht viel einbringt. Nach ein paar Minuten Gehen überkam mich plötzlich das Gefühl, als würde der Fisch den ich vor Jahrmillionen einmal war, durch meine Augen kucken. Mit einem Male war eine Verbindung da zwischen meinem Ursprung und der Gegenwart. Mein Menschsein zerfiel in Anbetracht der Kürze seines Daseins zu Staub.

Es lohnt sich nicht, sich am Menschsein zu orientieren oder daran festzuhalten, zu kurz ist die Zeit seitdem wir Menschen sind. Vielmehr spürte ich in jeder einzelner Zelle meines Körpers ein Fischerhacken stecken, dessen Schnur endlos zurück zum Ursprung des Universums reicht. Mit jedem einzelnen Schritt ziehe ich an der Schnur und verlängere sie in Zeit und Raum. Nicht ohne den Widerstand und Schmerz zu spüren, den jetzigen Standpunkt zu verlassen, getrieben von der Lust, Neugierde und Freude, mich ins Ungewisse zu stürzen. Kazuo Ohno beschrieb den Tanz als Gebet des Instinkts. Durch meine Augen bohrt sich die Vergangenheit in die Gegenwart und umgekehrt. Mein Blick explodiert in beide Richtungen.

Einmal aus dem Gleichgewicht, die Essenz meiner Existenz auf den Punkt gebracht, die eigene Identität in die Waagschale geworfen, lasse ich mich nun fallen. Ich gebe mich auf, hin und ab, vertraue meiner Entscheidung, die zum Verlust meines Standpunktes geführt hat. Als einzige Verbindung zum Boden wird die kleine Fläche hinter dem grossen Zehen nach hinten, also entgegengesetzt der Richtung in die wir gehen wollen, gedrückt. Ich drücke mich also nochmals in die Vergangenheit in Richtung meines Ursprungs, so als möchte ich mich zum letzten Mal vergewissern von wo ich komme und was ich verlasse. Die Reaktion oder auch Antwort auf diesen Druck, bestimmt die Richtung meines Weges oder erstmals den nächsten Schritt. Um mich von etwas entfernen zu können, muss ich mich sozusagen nochmals darin eindrücken und hinterlasse einen Abdruck.

Das freie Bein, an der etwas angehobenen Hüfte hängend, verliert vollends seinen Kontakt zum Boden und fällt wie ein Pendel völlig frei und entspannt nach vorne. Das Steissbein folgt dieser Pendelbewegung. Man zieht förmlich den Schwanz ein in Anbetracht der Angst vor dem Ungewissen. Daher wölbt sich der untere Rücken entspannt nach hinten. Etwas zeitlich und räumlich verschoben fällt auch das Brustbein nach unten und vorne. Die Wirbelsäule entspannt sich und öffnet jeden einzelnen Wirbel, einen nach dem anderen, nach hinten. Ich öffne mich also noch einmal in Richtung Vergangenheit, vergewissere mich der Richtung aus der ich komme, und lade sie ein, diesen Schritt mit mir zu wagen. Ich nenne diese Phase des Schrittes, den demütigen Fall. Verneigend, dankend und entschuldigend, verlasse ich meinen Standpunkt und mein etwas gewölbter, gerundeter Oberkörper umarmt einladend, demütig das Ungewisse. Die Demut folgt unmittelbar dem Aufbäumen.

Es ist völlig sinnlos das Bein bewusst anzuheben und dessen Richtung zu bestimmen. Viel zu kompliziert sind all die Faktoren die dabei eine Rolle spielen. Die einzige sinnvolle Vorbereitung und Kondition ist das Frei-Sein. Sich gegenüber dem Ungewissen bedingungslos zu öffnen, um sofort auf den neuen Standpunkt reagieren zu können.

Der erste Körperteil der den neuen Standpunkt erkundet und gleichzeitig den völligen Zusammenbruch verhindert, ist die Ferse. Von ihr aus rolle ich über die Aussenseite meiner Sohle in Richtung kleiner Zehe. Ganz anders bei den meisten Menschen. Sie drücken sich mit dem unteren Rücken nach vorne ins Hohlkreuz, ihre Brust wird angehoben und wie der Bug eines Schiffes, verdrängen sie alles was ihnen im Wege steht. Unsere imperialistische Vergangenheit hat sich im Gang materialisiert.

Wie oben schon erwähnt, konzentriere ich mich beim Gehen auf das Gehen. Die Augen sind offen aber nicht mehr suchend ausgerichtet. Das Meiste habe ich schon mehrmals gesehen und verlangt nicht mehr nach meiner Aufmerksamkeit. Überhaupt schauen wir nicht nach aussen sondern nach innen. Wir sehen nicht was ist, sondern was wir sind. Nach aussen schauen bedeutet nach innen zu schauen. Ich lasse mich also berühren von den Formen, Farben, Licht und Schatten, so als würde ich sie zum ersten Mal sehen und lasse mein Inneres bestimmen, ob es von Interesse oder Wichtigkeit für meine Existenz ist.

Dieser Mechanismus ist mir vor gut zehn Jahren in Berlin bewusst geworden. Durch das Mantra des Gehens wurde ich automatisch gehindert meine Aufmerksamkeit ständig nach aussen zu richten. Dadurch bin ich mir dessen Einfluss auf meine Person um so deutlicher bewusst geworden. Der Einfluss der mich umgebenden Menschen mit ihren fahrigen, etwas verkrampften Bewegungen oder leider oft aggressiven Haltung. Ja sogar deren Frisuren und Kleidung betonen oft diesen Eindruck. Die sich mir mit grosser Geschwindigkeit nähernden, bewusst aggressiv gestalteten Autos. Die an Zeitungskiosken ausgehängten, an Grausamkeit sich überbietenden Überschriften. Die in den Schaufenstern oder Reklamewänden dargebotene Ware, ausgeklügelt bis ins Detail, unsere primitivsten Instinkte anzusprechen.

Nach etwa einem Monat äußerlicher Abstinenz fiel mir sozusagen als Nebeneffekt auf, dass ich keine Frauen mehr anstarre. In der U-Bahn oder auf der Strasse halte ich nichtmehr Ausschau nach Freiwild. Dieser Umstand führte zu mehr Aufmerksamkeit und Beobachtung wie wir Männer, falls wir Hetero sind, die Frauen ankucken oder vielmehr anstarren. Bei homosexuellen Männern ist es natürlich dasselbe. Oft kaufe ich meinen Tabak bei einem Homosexuellen im Nachbardorf ein, wobei er mich immer aus nächster Nähe mit seinen Augen von oben nach unten und wieder zurück, abtastet. Eine der wenigen Gelegenheiten als Mann wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, zum Sexualobjekt degradiert zu werden. Dabei geben meine Geschlechtsgenossen was ihren Trieb anbelangt, ein oft jämmerliches Bild von sich. Ganz geschweige wie es sich für die angestarrten Frauen anfühlen muss, zu einem Objekt der Triebe degradiert zu werden. Mit einem Male hörte ich auf eine pervertierte Maschine zu sein. All dass nur weil ich mich beim Gehen auf das Gehen konzentriere. Nach einem weiteren Monat äusserlicher Abstinenz fiel mir auf, dass ich seit gut einem Monat nicht mehr masturbiere, etwas was es in den letzte vierzig Jahren so nicht gegeben hat. Natürlich gibt es nichts einzuwenden gegen die Masturbation, nach wie vor lege ich manchmal genüsslich Hand an mich. Es lohnt sich aber darüber nachzudenken, wie sehr wir durch äusserliche Reize, mehr oder weniger unfreiwillig unsere primitiven Triebe kultivieren und von ihnen versklavt werden.

Den ersten Schritt gewagt, alles hinter sich gelassen, demütig ins Ungewisse gefallen, berühren wir also mit der Ferse zum ersten Mal das Unbekannte. Dieser Punkt des Auftritts darf nicht vor unserem Körperschwerpunkt liegen. Sonst funktioniert die Reaktion auf das fallende Gewicht als Bremse, weil sie in entgegengesetzter Richtung in die wir gehen wollen auf unseren Körper einwirkt. Der Gang wirkt so eher apathisch und unmotiviert. Der Auftrittspunkt muss sich entweder genau unter uns, oder je nach Geschwindigkeit etwas hinter dem Körperschwerpunkt befinden. Nur so ist es möglich anhand des Körpergewichts zu gehen.

Über die Aussenkannte der Fußsohle abrollend, holen wir noch einmal Schwung in dem wir unser Gewicht auf die Innenseite der Fußsohle fallen lassen. Dabei macht das Fussgelenk eine Drehung nach innen, das Knie und die Hüfte machen es ihm zeitlich und räumlich etwas verschoben nach und es geht eine wellen- und spiralartige Bewegung um unsere Körperachse nach oben. Damit wird unsere aufrechte Haltung stabilisiert und ausgerichtet. Das freie Bein ist so zum neuen Standpunkt geworden. Nach der Demut folgt nun das sich Aufrichten, der Aufbau unseres neuen Standpunktes und Egos. Die letzte Phase des Schrittes ist vollendet. Bevor wir uns wieder aufbäumen, können wir uns entscheiden ob wir hier stehen bleiben wollen und das Gewicht wieder auf beide Beine verteilen.

Der Prozess der Metamorphose ist abgeschlossen. Das Selbst hat sich aufgelöst, ist gestorben und wieder neu geboren. Bis zum nächsten Schritt.